Hoh(l)er(s) Besuch an der BMSW

Lernende: Haben Sie uns einen Tipp, wie man eine gute Kurzgeschichte schreiben kann?
Hohler: Haben Sie auch schon eine Idee gehabt? Mein Tipp ist, eine Idee zu haben, aus dem eigenen Leben oder etwas Erfundenes, völlig egal, und dann das Wichtigste: an diese Idee zu glauben! Anfangen, nicht zu lange studieren, aufhören kann man immer noch, etwas anfangen ist das Wichtige!
Lernende: Woher nehmen Sie die Inspiration zum Schreiben?
Hohler: Ich nehme etwas, das ich erlebt habe zum Anlass, etwas zu erzählen und dann weiterzuspinnen. Die Wirklichkeit nehmen und dann weiterdenken, für mich wird es dann interessant: Was wäre wenn?
Lernende: Gibt es in Ihrem Gesamtwerk ein Stück oder eine Geschichte, die Ihnen besonders am Herzen liegt?
Hohler: Ui, das ist eine heikle Frage. Das ist, wie wenn man einen Vater fragt, welches sein Lieblingskind ist. Natürlich antwortet er, er habe alle gleich gern, auch wenn er vielleicht eines lieber hat. Am nächsten ist mir meist derjenige Text, an dem ich gerade am Arbeiten bin. Da ist der Denkvorgang noch am Laufen.

Lehrperson: Wir haben vorhin die Ballade «Der Weltuntergang» gehört, Sie tragen sie seit über 50 Jahren vor. Wie hat sich das Gefühl beim Vortragen verändert?
Hohler: Es ist immer noch dieselbe Hoffnung wie damals. "Der Weltuntergang, meine Damen und Herren, hat schon begonnen", diesen Satz sagt man ja, weil man hofft, dass er noch nicht begonnen hat oder weil man hofft, dass man ihn noch aufhalten kann. Ein Stück weit ist man aber natürlich auch enttäuscht, man denkt, hoppla, da ist alles beim Alten. Die Grundstimmung bleibt, ich trage den Text immer noch vor, als hätte ich ihn gestern geschrieben.
Als Herr Direktor J., bevor er von zu Hause wegging, noch rasch in den Spiegel seines Korridors schaute, erschrak er.
Sein Anzug war zwar in Ordnung, auch die Krawatte saß, aber dort, wo sonst sein Gesicht war, sah er ... einen Wasserhahn. Das muß eine Täuschung sein, dachte Herr J. und wollte sich ins rechte Ohr kneifen, aber statt dessen drehte er das heiße Wasser auf, das sich nun in einem vollen Strahl auf sein Hemd ergoß.
Mit einem Aufschrei schloß er den Hahn wieder, und in dem Moment sah er, daß er sich wirklich getäuscht hatte — im Spiegel war sein normales Gesicht, und auch als er es mit den Händen abtastete, änderte sich nichts mehr, von einem Wasserhahn konnte keine Rede sein. Beruhig wandte sich Herr Direktor J. der Türe zu, da merkte er, daß er so nicht gehen konnte. Sein Anzug war durch und durch naß, und unter dem Hemd spürte er einen brennenden Schmerz, der langsam stärker wurde.
Hohler, Franz (2003). Die Karawane am Boden des Milchkrugs. München: Luchterhand.
Lernende: Und was bedeutet diese Geschichte vom Wasserhahn?
Hohler: Aha! Was bedeutet Sie denn Ihnen? (wartet) Sie müssen nicht unbedingt antworten, ich nehme auch zur Kenntnis, dass es eine schwer verständliche Geschichte ist.
Lernende: Er hatte vermutlich Stress, stand unter Druck, so habe ich das verstanden.
Hohler: Super, daran habe ich gar nicht gedacht! Ja, vermutlich hatte er kein leichtes Leben, der Herr Direktor J. Etwas passiert mit einem, und man weiss nicht was es ist. Eine Pflegefachfrau hat mir einmal gesagt: Das muss ein Herzinfarkt sein. Könnte sein, ja. Es passiert etwas und man kann es nicht einordnen. Es ist im übrigen gerade so wichtig, was ihr zu einer Geschichte denkt, wie was ich dabei gedacht habe. Das muss nicht dasselbe sein.
Lernende: Ich würde gerne über die Kindergeschichte vom "Räuber Bum" sprechen. Ich habe diese Geschichte als Kind vorgelesen bekommen und lese sie jetzt selber meinen Kindern vor. Ich habe nie verstanden: Sind Anita und der Räuber Bum Kinder oder Erwachsene?
Hohler: Aha, jetzt kommen die Detailfragen (lacht). Es ist ein Versuch von Anita und Räuber Bum, in eine andere Welt auszubrechen, das machen ja viele Kinder. Sie probieren andere Leben aus, sie erschrecken andere Leute als Räuber. Verstehen wir sie als Kinder, ja.
Lehrperson: Wir spüren Ihre unglaubliche Inspiration, und auch wie Ihre Texte bei uns direkt ankommen. Kann man auch mit KI Kreativität erzeugen?
Hohler: Also ich brauche es nicht. Sprachliche Feinheiten gehen unter mit KI, aber klar: Bewerbungen schreiben kann es, übersetzen auch, ich will sie nicht verteufeln. Mich interessieren vor allem die Schattenseiten von KI: Eine ist natürlich der unglaubliche Energieverbrauch, eine Suchanfrage kostet 10-mal mehr Energie als eine Anfrage bei Google. Eine weitere ist, dass man KI beibringen muss, wie die Welt eingerichtet ist bei uns, was erlaubt ist, was nicht, was eine Verletzung beispielsweise bedeutet. Diese Aufgabe, die KI zu belehren, ist aktuell ausgelagert an junge Menschen in Entwicklungsländern, die dafür zu Hungerlöhnen täglich schreckliche Videos schauen müssen und psychisch leiden.
Lernende: Wie alt waren Sie, als Sie angefangen haben zu schreiben?
Hohler: Ich habe angefangen zu schreiben, sobald ich lesen konnte. Globigeschichten und Wilhelm Busch, die haben mich inspiriert und mir zu eigenen Ideen verholfen. Als erstes habe ich einen fabelartigen Comic geschrieben und gezeichnet, von einer Biene und einem Pferd. Sie endet mit dem Satz: "Und die Moral von der Geschicht, lass dich von Bienen stechen nicht." Ich schrieb weiter, auch während der Kantizeit, stets kurze Geschichten. Das Oltner Tagblatt druckte dann einige ab, das hat mich sehr ermutigt.
Lernende: Werden Sie oft in der Öffentlichkeit erkannt?
Hohler: (zögert) Gelegentlich, ja. Kürzlich kam ich aus einem Restaurant in Zürich. Ein Mann sprach mich an und zeigte mit dem Finger auf mich: "Franz Hohler?" - "Ja", antwortete ich. Darauf der Mann, fast entgeistert: "Ich han gar nöd gwüsst, dass Sie no läbet." (alle lachen)
Lernende: Ich glaube, Sie sind qualifiziert, diese Frage zu beantworten: Was ist der Sinn des Lebens?
Hohler: Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst. Das Leben hat immer recht!!!!!
Als man das Schulhaus umbaute, wurden die Wandtafel, der Schwamm und die Kreide in einen Abfallcontainer geworfen.
Dabei fiel die Kreide vom Rand des Containers hinunter und brach entzwei.
Mit ihrem vorderen Stück begann sie langsam auf die Strasse zu schreiben: „Das Wichtigste im Leben ist – „
„Na?“ rief der Schwamm von oben.
„ – die Freude“ schrieb die Kreide, und setzte noch ein Ausrufezeichen dahinter, und noch eins, und noch eins, und noch eins.
Hohler, Franz (2009). Das grosse Buch. Geschichten für Kinder. München: Hanser.